Relatives Schätzen für realistischere Aufwandsschätzungen im Projekt (Story Points)

Fabian WalterZeitmanagement, Agiles Projektmanagement4 Kommentare

Relatives Schätzen von Komplexität

Absolutes Schätzen in Personentagen ist zwar die schlechteste, aber leider noch immer eine der verbreitetsten Schätzmethoden. Gerade zu Beginn eines Projekts, wenn die Unsicherheit noch am Größten ist, sind diese Schätzungen höchst unzuverlässig.

Lässt man beispielsweise mehrere Personen unabhängig voneinander den Aufwand einer Aufgabe schätzen, bekommt man in der Regel sehr unterschiedliche Angaben. Diese liegen dann insgesamt meist auch noch sehr weit vom korrekten Aufwand entfernt sind.

In diesem Artikel erfährst du, warum absolutes Schätzen so schlecht funktioniert und wie du das Problem mit relativem Schätzen in den Griff bekommst.

 

Das Problem mit der Dauer einer Aufgabe

Wenn jemand eine Reise tut … wie lange wird er wohl brauchen? – Vor einigen Wochen waren zwei meiner Kolleginnen in Frankfurt am Main. Nach ihrer Rückkehr habe ich sie gefragt, wie lange sie für die Fahrt gebraucht haben.

Die Antworten hätten unterschiedlicher nicht ausfallen können: denn wo die Fahrt der Einen etwa 7 Stunden dauerte, brauchte die Andere nur etwas mehr als eine Stunde.

Der Unterschied ergab sich u.a. aus dem gewählten Verkehrsmittel: Auto vs. Flugzeug. Aber bereits an diesem einfachen Beispiel sehen wir, dass wir die Dauer einer Aufgabe – hier: eine Reise – nicht ohne weiteres bestimmen können.

 

Sind dann absolute Werte die Lösung?

Natürlich könnten wir nun – statt einfach nach der Dauer – nach einem absoluten Wert, der für alle gleich ist, Ausschau halten. Diesen könnten wir dann in Verbindung mit dem gewählten Verkehrsmittel in Relation setzen und so die Dauer besser schätzen.

In unserem Beispiel wäre das beispielsweise die Entfernung zwischen Hamburg und Frankfurt von 393 km (Luftlinie). Aber auch hier sehen wir bereits, dass uns das nur bedingt weiter hilft. Denn die Luftlinie bringt mir, wenn ich das Auto nehme, relativ wenig. Denn dann sind es schon 492 km; ein Plus von 25 Prozent.

Außerdem kam bei unserem obigen Beispiel noch ein unvorhergesehener Stau auf der A7 dazu. Und der hat meine Kollegin ca. 1 Stunde extra gekostet.

 

Viele Faktoren beeinflussen die Dauer

Wir sehen also, dass es uns selbst in diesem sehr einfachen Beispiel nicht ohne weiteres möglich ist, die Dauer für die Erledigung der Aufgabe im Vorfeld zu bestimmen.

Die Dauer hängt nämlich u.a. von folgenden Faktoren ab:

  • Eingesetzte Technologie:
    Hier: das gewählte Fahrzeug (Flugzeug, Auto, Zug, Fahrrad, …)
  • Vorhandene Fachkenntnisse:
    Hier: Das Wissen über die Straßenverhältnisse.
  • Vorhandene Kompetenz:
    Hier: der Fahrstil. Ein Profirennfahrer wird die Strecke wahrscheinlich schneller zurücklegen, als meine Oma (die ja sonst nur im Hühnerstall Motorrad fährt) 🙂

Natürlich könnten wir jetzt versuchen bei jeder Aufgabe diese relevanten Faktoren zu identifizieren, zu quantifizieren und dann daraus eine Schätzung für die wahrscheinlich benötigte Dauer abzuleiten.

Und letztlich machen wir ja – zumindest überschlagsmäßig – auch nichts anderes, wenn wir die benötigte Dauer für unsere Aufgaben schätzen.

Da aber die Aufgaben in unseren Projekten deutlich komplexer sind als unser sehr einfaches Reise-Beispiel, werden die Herausforderungen vor denen wir bei unseren Schätzungen stehen deutlich größer sein.

Und wahrscheinlich kannst du meine Erfahrungen teilen, dass wir bei diesen Schätzungen meist ein gutes Stück daneben liegen. Meist schätzen wir die vor uns liegenden Aufgaben deutlich kleiner ein, als sie dann letztlich sind. Und das führt dann zu Verspätungen und Stress.

 

Die Lösung: Relatives Schätzen

Wenn du jetzt fragst, ob es nicht eine einfache und bessere Lösung gibt, dann kann ich dir sagen: Ja, es gibt eine verblüffend einfache und zusätzlich überraschend akkurate Art Aufwände zu schätzen. Denn wir Menschen sind schlecht darin absolute Werte (wie die Dauer unserer Aufgaben) zu schätzen. Was wir aber sehr gut und sehr einfach schätzen können, sind Relationen zueinander.

Wenn du nämlich beispielsweise deutsche Städte – wie Wiesbaden, Frankfurt, Braunschweig, Köln oder Leipzig – nach ihrer Größe ordnen sollst, dann wirst du – auch ohne Stadtplanungsexperte zu sein – überraschend gut mit dieser Aufgabe zurecht kommen.

Diese Aufgabe fällt dir gerade deshalb so leicht, weil ich dich nicht nach absoluten Werten (hier: die genaue Einwohnerzahl), sondern nach der relativen Größe einer Stadt im Vergleich zu einer anderen frage. Die Einschätzung, ob eine Stadt größer oder kleiner als eine andere Stadt ist, fällt uns nämlich überraschend leicht. Und das auch wenn wir die Städte selbst noch gar nicht selbst besucht haben oder sie anderweitig im Detail kennen würden.

Und wenn du das Ganze dann auch noch im Team durchführst, wirst du wahrscheinlich fast alles richtig haben, denn hier hilft dir zusätzlich das Prinzip der Schwarmintelligenz.

DIE VORTEILE DES RELATIVEN SCHÄTZENS SELBST ERFAHEREN:
Mit der Anmeldung zum Newsletter bekommst du Informationen zum Projektmanagement bequem per E-Mail. Unter anderem sicherst du dir die PDF-Vorlage mit der du die Vorteile des relativen Schätzens am Beispiel deutscher Städte selbst ausprobieren kannst.

Informationen zu den Inhalten, der Protokollierung deiner Anmeldung, dem Versand über den US-Anbieter Amazon AWS, der statistischen Auswertung sowie deinen Abbestellmöglichkeiten, erhält du in meiner Datenschutzerklärung.

 

Fibonacci-Reihe: die Skala für relatives Schätzen

Jetzt haben wir zwar die Städte relativ zueinander in eine Reihenfolge gebracht, wir haben aber noch nicht viel über ihre eigentliche Größe ausgesagt. Um nun aber die Vorteile des relativen Schätzens sinnvoll auf unsere Projektaufgaben übertragen zu können, benötigen wir also noch eine Skala.

Hierfür empfehle ich dir die Fibonacci-Reihe, die auch beim Planning Poker verwendet wird. Sie sieht wie folgt aus:

1 – 2 – 3 – 5 – 8 – 13 – 21 – 34 – 55 – 89 – 144 – …

Bei dieser Zahlenreihe ergibt sich die nächste Zahl immer aus der Summe der beiden vorherigen Zahlen. Nach den Schritten 1 und 2 kommt also die 3 (= 1+2), dann die 5 (=2+3) und dann die 8 (= 5+3).

HINTERGRUND ZUR FIBONACCI-REIHE:
Benannt wurde die Fibonacci-Reihesie nach Leonardo Fibonacci, der damit im 13. Jahrhundert das Wachstum einer Kaninchenpopulation beschrieb. Im Laufe der Zeit zeigte sich, dass die Fibonacci-Reihe noch zahlreiche andere Wachstumsvorgänge von Pflanzen beschreibt und einen unmittelbaren Zusammenhang zum Goldenen Schnitt hat.

 

Komplexität von Aufgaben in 5 Schritten relativ schätzen

Mit der Fibonnaci-Folge als Grundlage kannst du dich nun auf das relative Schätzen vorbereiten.

  1. SCHÄTZT KOMPLEXITÄT, NICHT DAUER!
    Wichtig ist nochmal darauf hinzuweisen, dass du die Zahlen der Fibonacci-Reihe nun nicht einfach als absolute Werte, sondern als Ausdruck der Komplexität einer Aufgabe wahrnimmst.
    D.h. dass eine Aufgabe mit dem Wert “5” nicht den Aufwand von “5 Personentagen” hat, sondern dass der Wert die Komplexität der Aufgabe beschreibt. Wie du daraus später eine Prognose zur Dauer erstellen kannst, erfährst du weiter unten.
  2. REFERENZ-AUFGABE(N)
    Nun aber weiter mit dem relativen Schätzen. Als erstes musst du nun noch eine sogenannte Referenz-Aufgabe definieren. Bei dieser Aufgabe muss es sich um eine Aufgabe handeln, die jedes Teammitglied kennt und deren Umfang er einschätzen kann.
    Anschließend weist ihr dieser Aufgabe einen (beliebigen) Wert aus der Fibonacci-Reihe zu. Wenn ihr beispielsweise eine mittelgroße Referenz-Aufgabe als 8er-Aufgabe definiert, dann könnt ihr alle weiteren Aufgaben relativ zu diesem Referenz-Wert in die Fibonacci-Reihe einordnen.
  3. VORSTELLUNG DER ZU SCHÄTZENDEN AUFGABE
    Im nächsten Schritt stellt dann ein Teammitglied die zu schätzende Aufgabe vor. Diese Vorstellung sollte möglichst neutral stattfinden, um die anderen Teammitglieder nicht unnötig zu beeinflussen. Verzichtet also auf Einführungen, wie “Jetzt kommt eine einfache Aufgabe …” oder ähnliches.
  4. SCHÄTZUNG DER KOMPLEXITÄT
    Wenn alle Fragen geklärt sind, geht es an die Schätzung der Komplexität. Dafür schätzt jedes Teammitglied (für sich und ohne Absprache mit den anderen), ob die Aufgabe komplexer oder weniger komplex als die Referenz-Aufgabe ist.
    Wenn du beispielsweise der Meinung bist, dass die vorliegende Aufgabe etwas komplexer ist, dann wählst du eine “13”. Bist du der Meinung, dass sie deutlich komplexer ist, dann vielleicht eher eine “21” oder sogar eine “34”.
  5. ABGLEICH DER KOMPLEXITÄTS-SCHÄTZUNG
    Wenn alle Teammitglieder die Aufgabe geschätzt haben, könnt ihr die Schätzungen miteinander vergleichen. Liegen sie weit auseinander? Dann solltet ihr darüber diskutieren, denn das spricht dafür, dass noch kein gemeinsames Verständnis für diese Aufgabe existiert und dass ihr noch Klärungsbedarf habt.
    Wiederholt anschließend die Schätzung, bis ihr euch (grob) auf einen Wert geeinigt habt.
AUCH INTERESSANT: PLANNING-POKER
Weitere Informationen zur spielerischen Aufwandsschätzung (inkl. den Planning Poker Karten) findest du im Artikel: “Planning Poker: Spielend und mit Spaß Aufwände schätzen”.

 

Empirische Prognosen: Wie du aus Komplexität die Dauer berechnen kannst.

Wahrscheinlich fragst du dich jetzt, woher du nun aber weißt, wie lange die Bearbeitung einer Aufgabe dauern wird.

Hierzu muss ich noch einmal kurz auf die Idee hinter dem relativen Schätzen der Komplexität eingehen: Das Problem an komplexen Aufgaben ist, dass wir den Weg zum Ziel zu Beginn der Aufgabe noch nicht kennen (können). Siehe dazu auch meinen Artikel über das Cynefin-Modell.

Aus diesem Grund können wir auch nicht mit Sicherheit sagen, wie lange dieser Weg zum Ziel dauern wird. Um nun aber doch eine gute und empirische Prognose abgeben zu können, nutzen wir einfach die Daten aus der Vergangenheit und übertragen die Durchschnittswerte in die Zukunft.

Dafür messen wir im ersten Schritt, wie viele Komplexitäts-Punkte ein Team in einem bestimmten Zeitraum erledigen kann. Wenn beispielsweise 5 Mitarbeiter in 2 Wochen 400 Komplexitäts-Punkte erledigt haben, dann können wir berechnen, dass pro Person und Tag etwa 8 Punkte erledigt wurden. Denn: 400 Punkte / (5 Personen * 10 Tage) = 8 Punkte/Personentag. Ein Punkt dauerte im Durchschnitt also etwa 1 Stunde.

Wichtig ist hierbei aber darauf zu achten, dass es sich hierbei um Durchschnittswerte handelt! Daraus lässt sich also im Umkehrschluss nicht sicher bestimmen, dass eine “8er-Aufgabe” genau 1 Personentag dauert. Im Schnitt wird das zwar zutreffen, aber der Einzelfall kann davon nach “oben” oder “unten” abweichen!

Wenn wir nun aber den Durchschnitt der letzten – beispielsweise 3 – Zeiträume nutzen, dann gleichen sich diese Ausreißer nach “oben” oder “unten” ganz gut aus und wir bekommen eine ganz gute Grundlage für unsere Prognose.

Wissen wir nun also, dass wir noch Aufgaben im “Wert” von 1000 Punkten haben und pendelt sich unsere Umsetzungsgeschwindigkeit bei etwa 400 Punkten pro 2 Wochen ein, dann können wir abschätzen, dass wir die noch anstehenden Aufgaben in ca. 5 Wochen erledigen können (1000 / 400 * 2 Wochen = 5 Wochen).

 

Fazit: Relatives Schätzen der Komplexität hat viele Vorteile

Auch wenn das relative Schätzen der Komplexität von Aufgaben zu Beginn etwas gewöhnungsbedürftig erscheint, bringt es doch viele Vorteile mit sich. Damit fällst du nämlich einerseits nicht in die Falle, komplexe Aufgaben – bei denen wir den Weg zum Ziel noch nicht kennen (können) – mit einem absoluten Aufwand versehen zu wollen.

Dennoch erweisen sich die oben beschriebenen empirischen Prognosen oft als sehr genau! Viel genauer, als es die absoluten Aufwandsschätzungen meist sind. Wichtig ist aber immer wieder darauf hinzuweisen, dass es sich dabei nicht um Versprechen, sondern immer um Prognosen handeln kann.

Aber wer dir bei komplexen Aufgabe mehr verspricht, als eine auf Erfahrungswerten beruhende Prognose, der gaukelt dir sowieso eine trügerische Sicherheit vor, die er meist nicht halten kann.

Hast du Fragen oder Anmerkungen und eigene Erfahrungen zum relativen Schätzen? Dann freue ich mich auf deinen Kommentar!


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4 Kommentare zu “Relatives Schätzen für realistischere Aufwandsschätzungen im Projekt (Story Points)”

  1. Franz Miller

    Interessant, dass das absolute Schätzen in Personentagen immer noch eine der verbreitetsten Schätzmethoden ist. Wir verwenden zur Risikominimierung gern die 7-Schritte-FMEA-Methodik. Gut zu wissen, dass unterschiedliche Angaben erhält, wenn man zwei unterschiedliche Personen zum Beispiel die Dauer einer Reise schätzen lässt.

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