Egal ob bei der Gehaltserhöhung, im Projekt mit Lieferanten oder im Privaten mit dem Partner oder der Partnerin: Verhandlungen begleiten uns durch unser ganzes Leben. Und viele – mich eingeschlossen – fühlen sich in Verhandlungssituationen nicht immer wohl.
Doch was wäre, wenn wir uns hier an eine Abfolge von Schritten halten könnten, um bessere Verhandlungsergebnisse zu erzielen? Nicht nur für uns selbst, sondern für beide Seiten!?
Das Harvard Prinzip
Genau diese Frage stellten sich seit Mitte der 1970er Jahre Forscher des “Harvard Negotiating Project”. Sie untersuchten, welche Erfolgsfaktoren es bei einer professionellen Verhandlungsführung gibt.
Ihre Ergebnisse – das sogenannte Harvard Prinzip – gilt bis heute als “state of the art”, wenn es um Verhandlungen geht:
VORBEDINGUNG: Es liegt eine Verhandlungssituation vor
Bevor wir überhaupt in eine Verhandlung einsteigen können, müssen wir überprüfen, ob es sich überhaupt um eine Verhandlungssituation handelt. Was sich wie eine Binsenweisheit anhört, ist in der Realität oft nicht selbstverständlich!
Denn eine Verhandlungssituation liegt nur vor, wenn:
- unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse vorliegen,
- die Verhandlungspartner an einem Ausgleich dieses Unterschiedes – ohne Anwendung von Gewalt – interessiert sind
- und die Verhandlungspartner auch alternative Handlungsmöglichkeiten haben.
Vor allem der letzte Punkt ist hier sehr wichtig! Denn nur wenn der Verhandlungspartner eine Alternative hat – wenn er also eine echte Wahl- und Entscheidungsmöglichkeit hat – macht es Sinn zu verhandeln.
1. PRINZIP: Die Alternativen abwägen
Handelt es sich also um eine Verhandlungssituation, sollten wir zuerst einmal unsere Alternativen klären. Manchmal zeigt sich hier nämlich, dass es (noch) gar keinen Sinn macht zu verhandeln; beispielsweise dann, wenn die Verhandlung nur negative Auswirkungen haben kann.
Um mögliche Alternativen zu klären, macht es Sinn sich folgende Fragen zu stellen:
- Gibt es einen anderen oder besseren Verhandlungspartner, als den bisher gewählten?
- Ist jetzt die richtige Zeit für eine Verhandlung, oder solltest du evtl. noch etwas warten?
- und falls dein Gegenüber nicht wirklich motiviert ist mit dir zu verhandeln, kannst du (a) bereits einseitig Fakten schaffen oder (b) die Alternativen deines Gegenübers so einschränken, dass er mit dir verhandeln muss?
BATNA – Best Alternative To A Negotiated Agreement
Abgesehen von diesen Vorüberlegungen solltest du auf jeden Fall deine sogenannte BATNA – also die Best Alternative To A Negotiated Agreement – klären.
Hier geht es um die Frage: Worauf kannst du dich auf jeden Fall zurückziehen? Was hast du auf jeden Fall sicher? Auch ohne Verhandlung und ohne Übereinkunft mit deinem Verhandlungspartner?
Wenn du beispielsweise mit einem Lieferanten verhandelst und dieser erkennt, dass du seine Lieferung unbedingt brauchst, kann er Druck auf dich ausüben und einen für ihn guten Preis herausholen. Hast du aber bereits bei zwei anderen Lieferanten angefragt, verbessert sich allein dadurch, dass du dich zur Not auf eines der beiden anderen Angebote zurückziehen kannst, deine Verhandlungsposition!
2. PRINZIP: Zwischen Menschen und Problemen unterscheiden
Im zweiten Prinzip geht es darum, dass wir immer zwischen der Problemebene und der Beziehungsebene unterscheiden sollten. In vielen Verhandlungen gibt es nämlich eine Vermischung dieser beiden Ebenen, weshalb kein gutes Verhandlungsergebnis erzielt werden kann!
Um eine saubere Trennung der beiden Ebenen zu erreichen, sollte in zwei getrennten Schritten geklärt werden:
- Welche Sachfragen anstehen und
- Was die Beziehung der Verhandlungspartner belastet / belasten könnte.
Sofern es eine belastete Beziehungsebene gibt, sollte diese auf jeden Fall vor der eigentlichen Verhandlung geklärt werden, denn es gilt der Grundsatz “die Beziehungsebene trägt die Sachebene” – d.h. nur, wenn du deinem Verhandlungspartner vertrauen kannst, wirst du auch empfänglich für sachliche Argumente sein. Wenn du jedoch das Gefühl hast, dass dich dein Verhandlungspartner übers Ohr hauen will, dann wirst du hinter jedem noch so sinnvollen Vorschlag eine versteckte Falle erwarten.
Also: Kläre immer erst die Beziehungsebene, bevor du auf der Sachebene anfängst zu verhandeln!
3. PRINZIP: Interessen und Bedürfnisse ermitteln
In vielen Verhandlungen dreht sich alles um die unterschiedlichen Positionen. Belassen wir es hierbei, stehen wir einer Lösung, die für beide Seiten vorteilhaft sein kann, im Weg.
Ein klassisches Beispiel hierfür ist folgende Situation: Zwei Schwestern streiten sich um die letzte verbleibende Orange. Jede von ihnen sagt, sie brauche eine Orange (= Position). Wenn wir es hierbei belassen, bleiben uns zwei (suboptimale) Lösungen:
- Nur eine der Schwestern bekommt die Orange und die andere geht leer aus.
- Wir halbieren die Orange und jede der Schwestern bekommt eine Hälfte.
Wenn wir nun aber hinter die Positionen schauen und verstehen, welche Interessen und Bedürfnisse die Schwestern haben, öffnen sich uns ganz neue Möglichkeiten: In unserem Beispiel würden wir nämlich erkennen, dass die eine Schwester die Orange für ein Glas Orangensaft braucht (Bedürfnis A). Die andere Schwester will die Orange für einen Kuchen nutzen und braucht eigentlich nur die Schale (Bedürfnis B).
4. PRINZIP: Win-Win-Situation entwickeln
Wir sehen also, dass die Schwestern unterschiedliche Bedürfnisse haben und genau hier liegt die Möglichkeit eine “Win-Win-Situation” zu entwickeln. In unserem Beispiel können wir zuerst der einen Schwester die Orange zum Auspressen und dann den eigentlichen “Abfall” der anderen Schwester zum Abreiben der Schale geben und damit die Bedürfnisse beider Schwestern befriedigen.
Wir sehen also, dass wir – sofern wir hinter die Positionen der Verhandlungspartner schauen und deren Interesse und Bedürfnisse erkennen – nicht immer nur den Kuchen (bzw. hier die Orange) aufteilen müssen: Durch das Entwickeln einer Win-Win-Situation können wir den Kuchen sogar vergrößern!
5. PRINZIP: Fairness als Kriterium eines guten Ergebnisses
In vielen Situationen ist dieser fünfte Schritt gar nicht mehr nötig – wenn bei der Lösung klar ersichtlich ist, dass sie fair und gerecht für beide Seiten ist.
In manchen, sehr verfahrenen und komplexen Verhandlungen ist jedoch die systematische Bearbeitung dieses fünften Prinzips aber gerade die Grundlage für eine mögliche Lösung!
So können sich beispielsweise beide Verhandlungspartner auf erste Teillösungen einigen (und so auch größeres gegenseitiges Vertrauen aufbauen). Man könnte aber auch beide Seiten mit der Ausarbeitung von (Teil-)Lösungsvorschlägen beauftragen. Eine weitere Möglichkeit ist das Prinzip: “Ich schneide den Kuchen und du suchst dir dein Lieblingsstück aus”, denn so kann sich später keiner benachteiligt fühlen!
Professionelles Verhandeln mit dem Harvard Prinzip
Zwar stimmen die meisten Menschen – die zum ersten Mal von diesen fünf Prinzipien hören – überein, dass dieses Vorgehen logisch und eigentlich recht einfach klingt. Oft wird aber auch daran gezweifelt, dass es sich in der Realität auch umsetzen lässt. Vor allem wenn es um das Entwickeln von Win-Win-Situationen und das “Vergrößern des Kuchens” geht.
Diese Sorgen und Einwände sind nur zu verständlich, denn leider enden ja wirklich viele Verhandlungen nicht mit einem Ergebnis zum beiderseitigen Vorteil. Hier lohnt es sich aber auf einen der bekanntesten Erfolge des Verhandlungsprinzips nach Harvard hinzuweisen: Durch Vermittlung des US-Präsidenten Jimmy Carter konnte im September 1978 das Camp-David-Abkommen abgeschlossen werden, das zu einem israelisch-ägyptischen Friedensvertrag geführt hat.
Es zeigt sich also: wenn beide Seiten Interesse an einer Verhandlungslösung haben und die nötige Zeit und Energie in den Verhandlungsprozess investieren, dann können unglaubliche Ergebnisse erzielt werden! Dieses und viele weitere reale Beispiele sollten uns Mut machen, das Harvard Prinzip bei unserer nächsten Verhandlung selbst zu testen!